Die andere Seite des Raumes. Zur Unbewohnbarkeit im Spekulativen Realismus und der Architektur

Zur Unbewohnbarkeit im Spekulativen Realismus und der Architektur

Teil I 

 

Das Wohnen und sein Unbehagen

(Transzendentalphilosophie und Phänomenologie des Raumes, Die Korrelation und das Archefossil)

1.    Einleitung: Das Wohnen

Wie Bachelard einmal schreibt, beginnt jedes Leben behütet im „Schoße des Hauses“, denn „jeder wirklich bewohnte Raum trägt in sich schon das Wesen des Hausbegriffes.“ (Bachelard 1987, 32) Der Mensch, so scheint es, gehört in die Welt, nicht zuletzt, weil die Welt zu ihm gehört. Er bewohnt die Welt und ist ihr Hausherr. Die Erfahrung der fundamentalen Brüchigkeit dieses Glaubens, der Gedanke, dass die Welt auch anders verstanden werden kann und muss als nur durch die Einrichtung und Bewohnbarkeit durch den Menschen, bildet die ästhetische Grundlage für Tarkovskys Stalker. Nicht nur sind die hier gezeigten Räume nicht bewohnbar, weil sie sich gegen die Menschen in ihr zur wehr setzen, sondern die Gefahr, die von ihren ausgeht, ist unmenschlich, nicht einmal greifbar gegen sie gerichtet. Vielmehr erscheinen die inneren Mechanismen und die Beschaffenheit der Räume undurchdringlich eigenständig, indifferent gegenüber den Intentionen derer, die sie durchschreiten. Anstatt von ihnen geschaffen und durch sie beherrschbar zu sein, werden sie Suchenden Objekte eines Raumes, der nicht für sie ist und werfen eine grundlegende philosophische Frage auf: Wem gehört der Raum? Und, gibt es neben der Seite des Raumes, die wir erschließen, wahrnehmen und bewohnen können, noch eine andere? 

Dieser Frage nach der unheimlichen Dimension des Bewohnens von Raum wollen wir in Verschränkung mit der Frage nach der Architektur in diesem Vortrag nachgehen. Dafür muss zunächst die zeitgenössische und scheinbar unhintergehbare Annahme nachgezeichnet werden, dass (architektonischer) Raum ausschließlich im Bezug auf die Vermögen des Bewusstseins und leiblichen Praxen des Menschen verstanden werden kann. Dabei soll kursorisch Kants transzendentalphilosophische, sowie in der Weiterentwicklung Merleau-Pontys phänomenologische-leibphilosophische Raumkonstitution mit Blick auf den Begriff des Wohnens und der Architektur betrachtet werden. Mit den Werken Turells, sowie der Post-Phänomenologie Levinas’ wollen wir im Anschluss ein Unbehagen an diesem egologischen und persönlichen Verhältnis zum Raum aufzeigen, welches systematisch durch Meillassoux’ Argument des Archefossils zu einem anderen, nicht-anthropozentrischen Konzept des Raums ausgeweitet werden soll. Diese Re-Konzeption erlaubt ein neues Verständnis von Raum als primär unbewohnbar und formuliert damit eine Herausforderung an die Architektur, eröffnet aber auch eine Reihe neuer Möglichkeiten für eine anderes architektonisches Denken.      

2.    Kants transzendentale  Architektonik

Das primäre Problem, aus dem sich Kants heute immer noch dominantes Verständnis des Raumes ergibt, lässt sich mit einer Geschichte von David Foster Wallace vorführen. Zwei Fische schwimmen unbeschwert durch den Ozean. Als sie auf einen anderen Fisch treffen fragt dieser sie: “Wie ist das Wasser heute?” Etwas verwundert antwortet das Duo: “Ok, denke ich …” Als der andere Fisch vorbeigeschwommen ist, fragt der eine Fisch den anderen: “Was zur Hölle ist Wasser?”. Das philosophische Problem, dass sich in dieser Geschichte stellt, ist offensichtlich, dass uns nichts so nahe ist, wie der Raum – wir sind in ihm, er umfängt alles um uns und selbst wir selbst sind räumlich. Man stellt die Frage nach dem Raum nicht, weil er so nahe ist, wie den Fischen das Wasser. Beginnt man sich aber zu fragen, was das eigentlich sei, was wir immer voraussetzen, dann ergeht es uns wie es Augustinus einst mit der Zeit: “Fragt man mich nicht, was die Zeit sei, so weiß ich es genau. Fragt man mich aber, so weiß ich es nicht mehr.” Die Architektur nun aber, gerade als die Disziplin, die sich professionell mit der Strukturierung, Ordnung und Einrichtung des Raumes beschäftigt, ist mit dieser Frage schon von Berufs wegen her konfrontiert – es ist das Problem, an dem sich Architektur und Philosophie überlagern, nicht nur schneiden. Beide haben dasselbe Problem, meistens aber andere Fragen.

Kants Antwort auf das Problem, generiert sich zunächst aus dem Scheitern von vorausgegangenen Konzeptionen des Raumes, namentlich der von Newton und Leibniz. Wenn sie schon einmal in einem Zug saßen und aus dem Fenster geschaut haben, dann ist es ihnen vielleicht schon einmal passiert, dass der Zug neben ihnen losfuhr und sie das Gefühl hatten, ihr Zug würde sich bewegen. Die Frage ist nun, wie haben sie festgestellt, dass sich “wirklich” der andere Zug und nicht ihrer bewegt hat. Diese Unterscheidung von “wirklichen” von Scheinbewegungen, die entscheidend ist für die Bestimmung von Beschleunigung ist, veranlasst Newton dazu eine Konstante einzuführen, die als Referenzpunkt für die Unterscheidung dienen kann – den absoluten realen Raum, den sich Newton wie eine Bühne vorstellte. Schnell gerät diese Vorstellung jedoch in Probleme – wenn der Raum also eine Bühne ist, ist sie dann unendlich? Wenn ja, dann taugt sie nichts mehr als Referenzpunkt, ist sie es nicht, was ist dann außerhalb des Raums? Newton löst dieses Dilemma, indem er in seiner Naturphilosophie den Raum als eine Schachtel bezeichnet, innerhalb einer größeren Schachtel, der “Über-Schachtel”. Was in das gleiche Dilemma zurückführt. Ein Philosoph wie Leibniz konnte diese Lösung nicht stehen lassen. Anstatt real und absolut zu sein, versucht Leibniz den ‘Raum’ als ideal und relativ zu verstehen. Durch die Relation von Elementen, die ihre Positionen tauschen können, spannt sich für Leibniz ein Raum auf, der durch die Kommunikation von Teilräumen, die Vorstellung eines Raumes erzeugt, – der Raum ist also eine diskursive Praxis. Dabei vervielfältigen sich die Räume natürlich – es gibt einen Raum zwischen den Perspektiven der Menschen, genauso wie zwischen den Farben oder den Tönen. Natürlich läuft auch dies Konzeption in das Problem, dass sie erklären muss, wo genau diese Teilräume sein sollen und was ihre Kommunikation ermöglicht. Es scheint, dass sie selbst im Raum sein müssen, d.h. man wieder einen absoluten Raum voraussetzen muss.

Kant sieht in diesen Ansätzen eine fundamentale Fehlannahme versteckt, nämlich, dass der Raum etwas ist, dass man vor sich hinstellen könnte, wie ein Ding, kurz, dass man als “etwas” oder als Begriff verstehen könnte. Von diesem Punkt aus, vollführt Kant seine “koperkanische Wende”. Anstatt Dinge im Raum als etwas zu verstehen, dass uns einfach fertig gegeben gegenübersteht, versucht Kant nachzuvollziehen, wie wir die Dinge als Dinge erst konstituieren, d.h. welche Leistungen unser Verstand vollbringt, um die Dinge, die uns gegeben sind erst herzustellen. Anstatt zu Fragen, was sind die Dinge, die uns in der Erfahrung gegeben sind, fragt er nun, was sind die Bedingungen, dass sie uns überhaupt gegeben sein können. Im ersten Teil der Kritik der reinen Vernunft, der sogenannten “transzendentalen Ästhetik” wendet Kant diese Wende auf den Raum selbst an. 

Betrachten wir ein Ding, so können wir nicht anders, als es räumlich wahrzunehmen oder es uns vorzustellen. Der Raum ist in jeder Anschauung absolut notwendig. Alle Vorstellungen des Raumes als “etwas” oder Begriff in der Welt draußen führen jedoch in Sackgassen. Deswegen verlegt Kant den Raum in die Leistungen unseres Bewusstseins. Die Vermögen unseres Bewusstseins ordnen die Sinnesdaten, gemäß eines Schemas, räumlich und zeitlich und machen damit die Erfahrung von Dingen in der Welt erst möglich. Diese Prinzipien der Ordnung in unserer gegenständlichen Erfahrung nennt Kant die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit. Die Welt erscheint uns somit immer durch dieses Schema und niemals an-sich; daher auch die Trennung zwischen dem phenomenalen, dem, wie die Welt uns erscheint durch diese Formen und dem noumenalen, das nicht-erfahrbare Sein der Welt ohne unser Zutun über das wir kein Wissen haben können. Die Welt ist schon immer eine Welt für uns und der Raum durch die Leistung unseres Bewusstseins konstruiert. Anstatt im Raum zu sein, spannt der Mensch den Raum als Konstruktion erst auf. Die Welt ist also durch und durch für-uns und der Raum durch-uns.

3.    Der leibliche Raum der Phänomenologie und der Würfel

Diese Grundthese wird in der transzendentalen Phänomenologie noch radikalisiert. Sein Begründer Edmund Husserl, warf Kant dabei vor, sich nur statisch mit den Bedingungen beschäftigt zu haben, ohne tatsächlich die konstituierten Phänomene zu betrachten. Die Kantische Position setzt immer noch ein gewisse dritte Personen-Perspektive voraus, die gewissermaßen von außen auf die Leistungen unseres Bewusstseins schaut. In Husserls Cartesianische Meditationen wird dies am Bespiel des Betrachtens eines Würfels veranschaulicht. Ein Würfel liegt vor uns auf dem Tisch. Betrachten wir ihn, so fällt uns zunächst auf, dass wir nie den ganzen Würfel in der Wahrnehmung gegeben haben, sondern immer nur eine Seite. Trotzdem “sehen” wir den Würfel gewissermaßen als Ganzen, wir sehen ihn als Würfel. Wenn wir ihn umrunden, so nehmen wir seine anderen Seiten wahr. Aber hier, so Husserl, geschieht etwas Erstaunliches. Keine der Ansichten des Würfels gleicht der vorigen, alle Ansichten sind allein genommen radikal verschiedene Eindrücke zu radikal unterschiedlichen Zeitpunkten. Und doch, erscheint uns der Würfel “nahtlos” als “Einer” zu allen Zeitpunkten. Alle Ansichten und alle Zeitpunkte müssen also synthetisiert worden sein zu einer Einheit – d.h. eben nicht einfach zusammenhangslos aneinandergehangen, sondern sinnvoll vereinheitlicht im Bewusstsein. Gleichzeitig erkennen wir den Würfel als “Würfel”, haben eine gewisse ästhetische und wertende Beziehung zu dem Würfel (“Wieso zur Hölle liegt hier ein Würfel rum?”), – all das geschieht, ohne, dass wir es bemerken. Der Raum wird also durch eine Synthese all der Perspektiven hergestellt, die sie zu den Dingen einnehmen.

Nähern wir uns dem Würfel ein zweites Mal in der Phänomenologie Wahrnehmung von Merleau-Ponty. Dieses Mal viel früher im Leben aus der Perspektive eines Kleinkindes. Wir umrunden den Würfel, aber erscheint er schon als Würfel, so wie er dem erwachsenen erscheint? Er erscheint keine Tiefe zu besitzen, nicht signifikant aus der geschlossenen Oberfläche von Farben, Linien und Schatten hervorzutreten. Wir nähern uns dem Würfel, er wird größer, die Linien um ihn verbreitern sich. Wir fassen den Würfel an, – an der widerständigen Oberfläche erfahren wir plötzlich, dass er nicht flach ist, sondern drei-dimensional. Wir betasten den Würfel, stoßen uns mit dem Knie daran, setzen uns auf ihn, und wie es Kinder tun, versuchen wir ihn in den Mund zu nehmen. Durch jede körperliche Interaktion mit dem Würfel, lernen wir ihn als Ding, d.h. tatsächlich ausgedehntes Objekt, kennen und zugleich uns als Leib, der mit der Welt sinnlich umgeht, kennen. Man kann die Welt und sich selbst, nicht nur intellektuell ‘erschließen’, – man ist der Welt immer schon leiblich zugewandt. In der Umrundung des Würfels bei Husserl, war offensichtlich, dass wir ihn aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen, die Frage ist jedoch, wieso. Merleau-Ponty zeigt nun, dass die Perspektive immer auf den Leib, der sich in der Welt bewegt und immer schon auf sie bezogen ist, hergestellt wird und durch diesen Identitätspol vereinheitlicht wird. Dabei reicht es jedoch nicht, den Leib als physischen Körper zu verstehen. Nehmen wir bespielweise einen Blinden, der in der Lage ist mit dem Stock sicher durch den Raum zu navigieren. Obwohl der Stock nicht Teil seines physischen Körpers ist, ist die taktile Erfahrung, die ihm die sichere Bewegung durch den Raum erlaubt, nicht von seinem agierenden Leib getrennt, – der Stock ist in seiner Erfahrung tatsächlich eine “Erweiterung seines Körpers”. Er ist in sein Leibschema, durch das er die Welt erfährt und erschließt, integriert. Das leibliche Agieren in der Welt, mit all seinen Fähigkeiten und Beschränkungen, erschließt also für Merleau-Ponty den Raum, – das Kantische Bewusstsein ist vor allem und schon immer verkörpert.

Die philosophischen, sowie architektonischen Konsequenzen dieser Konzeption sind vielfältig. Insofern der Raum immer schon durch die leibliche Intentionalität konstituiert wird, ist der Bezug zum Raum schon immer persönlich und sinnvoll. Dies wird deutlich, wenn ich beispielweise am Bein verletzt bin, – dann ist eine Treppe, die ich letzte Woche noch hinaufgerannt sind, nun ein unüberwindliches Hindernis. Der Raum bis hinauf erstreckt sich unendlich für mich. Sinn und Ausdehnung des Raumes haben sich verändert. Für einen Architekten bedeutet dies natürlich, Räume auch noch den verschiedenen leiblichen Fähigkeiten auszurichten und die verschiedenen Sinnebenen zu bedenken, die ein Leib in einem gebauten Raum entfalten kann. Architektur und die bewohnten Räume lässt sich demnach ausschließlich auf der Grundlage von leiblichen Raumwahrnehmungen beschreiben. Beispielsweise lässt sich Distanz dann nicht mehr als primär geometrische Größe verstehen, sondern eher als Beziehungen von empfundener Nähe und Ferne. In einer Eingangshalle zum Flughafen kann eine Anzeigetafel, auf die ich schaue und zu der ich mich leiblich positionieren muss, um ordentlich lesen zu können, in meiner Erfahrung näher sein als die gerade ungenutzten Sitzbänke direkt neben mir. In dieser Weise lässt sich der Raum nun nicht mehr von meinem Leib trennen, der Leib spannt den Raum auf und ist in einem intimen Verhältnis zu ihm. Er erscheint als schon immer ‘erschlossen’ von meinem Leib. Die Welt wird primär “Umwelt”, nur verstehbar durch ihre Beziehung zum leiblichen Individuum, dass sich zu ihr verhält und durch diesen Leib geschaffen und geformt wird. Werkzeuge, beispielsweise, können in diesem Verständnis als Erweiterungen des Leibes gesehen werden, die die bereits leiblich bekannten Praxen auf einer höheren Stufe wiederholen. Genauso wiederholt das Wohnen, und somit auch die Architektur, die Intimität die wir immer schon leiblich-praktisch mit der Welt haben auf einer höheren Stufe. Architektur ist hier vor allem Einrichten der Welt für den Leib, der sie bewohnt und Steigerung seiner Fähigkeit, sich Welt ‘einzuverleiben’.

Umrunden wir den Würfel nun ein drittes Mal bei Deleuze; viel später nun, wir haben ihn schon hunderte Male betrachtet. Die jugendliche Freude des leiblichen Erschließens und die erwachsene Verwunderung über die Einheitlichkeit der Perspektiven sind lange vergangen. So oft wir ihn auch umrunden,  die Oberfläche des Würfels bleibt undurchdringlich. Sie wirft unseren Blick zurück, lässt sich nicht einnehmen. Die Einheit des Würfels macht ihn opak, er sperrt sich. Auf seiner Oberfläche schimmert ein tiefes Rot. Obwohl wir es schon zu allen Tageszeiten, in jedem Lichtverhältnis gesehen haben, lässt es sich nicht so vereinheitlichen wie die geometrische Ganzheit des Würfels. Seine Intensität ändert sich ständig, lässt sich nicht zusammenhalten. Die Wirkung des Rots, seine Intensität, entgleitet uns, sträubt sich der persönlichen Sinnzuschreibung und Vereinheitlichung, sondern scheint sich in unendlich kleine, uneinheitliche Differenzen aufzulösen. Am Ende scheint es sich sogar vom Gegenstand zu lösen.

4.    Turrell und das Licht des Raumes

1976 beginnt James Turrell seine Arbeit an einem neuen Projekt: Mit seinen Ganzfeld-Installationen konfrontiert uns der Künstler in seiner Auseinandersetzung mit dem Raum und der Farbe mit einer Wahrnehmung, die sich nicht mehr am konkreten Objekt etabliert, an dem sich gewisse Eigenschaften festmachen ließen, sondern den Raum selbst zum Leuchten bringt. Er durchquert die Tradition, insofern er die Konstellation Lichtquelle – Gegenstand aufgibt und dazu übergeht, Licht und Raum selbst eine Dichte zu verleihen. Wenn wir uns etwa Caravaggios „Die Berufung des heiligen Matthias“ ansehen, erkennen wir den archetypischen Aufbau, der sich wie ein roter Faden durch die gegenständliche Malerei zieht: Eine Lichtquelle, bei Caravaggio meist außerhalb des Gemäldes, erhellt die unmittelbare Szenerie und taucht sie in ein intensives Spiel aus Licht und Schatten. Beleuchtete Gegenstände ragen in den Vordergrund und damit in das unmittelbare Umfeld der konkreten Wahrnehmung, während andere sich in deren Schatten hüllen und als Abwesende auf ihren Umgebung verweisen. Aber obwohl einzelne Partien und Körperteile bis zur Unkenntlichkeit im Hintergrund verschwinden, sehen wir doch nie einen Fragmentierten Körper oder das bloße Nebeneinander einzelner Stücke, sondern stets den ganzen Körper, das ganze Objekt. Durch das Wechselspiel von Hell und Dunkel hindurch bleibt stets ein wohldefiniertes Dort insziniert, treten Objekte in den Raum, die als Träger von Eigenschaften dienen.

Demgegenüber versucht Turrell eine Erfahrung ins Werk zu setzen, in der das Licht nicht mehr nur als Scheinwerfer zur Beleuchtung dient und der Raum als Ort der Szenerie. Turrell stellt Raum und Licht in den unmittelbaren Fokus seiner ungegenständlichen Arbeit und entfernt beide aus der klassisch phänomenologischen Dichotomie, in der sie bloß im Gegensatz zum Gegenstand stehen und damit in seiner Abhängigkeit verharren. 

Raum und Licht, dem Immaterielle schlechthin verleiht er eine Masse, eine Dichte, die zwar in keiner Weise berührbar ist, aber dennoch nicht in der Peripherie liegt, nicht von jenseits des Bildes kommt oder als Schachtel das Objekt umrahmt. Obwohl präsent, bleibt der Raum immer unsicher, seine Ausdehnung undefinierbar und gerät bis in seine Dimensionalität hinein ins Stocken – wenn sich etwa die zweite und dritte Dimensionen zu verschieben beginnen und ineinander übergehen. Das Interessante an Turrells “Ganzfeld-Installationen” ist also, dass es sich nicht um ein bloßes Trompe-l’oeil oder Sinnestäuschung handelt: Es löst sich nicht auf, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, sondern vertieft sich nur. Es gibt keinen Standpunkt wie in der Zentralperspektive, von dem aus die Installationen zu sehen sind, damit alles einen Sinn macht ergibt, von dem aus die Installation als Ganzes konstruiert werden kann.

Der Raum, wie in Turrell ins Werk setzt, verwehrt sich seiner Gliederungsfunktion und hebt jegliche differenzierte Ordnung auf und eröffnet dadurch eine Dimension des Raumes, die über die klassisch phänomenologische Anschauung des Subjekts hinausweist. Der Raum bietet  keinen Unterschlupf, ist keine Herberge, in der man sicher niederlässt, sondern konfrontiert uns mit jedem Schritt und jedem Blick mit seiner innersten Unsicherheit und Ungewisseheit.[1]

Diese Unheimlichkeit des Gegebenen, diese Bedrückung des Seins, die sich wie eine große Klammer um uns legt, stellt auch Emmanuel Levinas ins Zentrum seines Denkens und verlässt damit eine seit Kant herrschenden philosophische Tradition. Er findet in der Schlaflosigkeit ein Moment, das von dieser Erfahrung Zeugnis ablegen:

Nehmen wir die Schlaflosigkeit. […] Die Schlaflosigkeit besteht aus dem Bewußtsein, daß es nie mehr enden wird, das heißt, daß es keinerlei Mittel mehr gibt, sich aus der Wachsamkeit, zu der man verpflichtet ist, zurückzuziehen. Wachsamkeit ohne irgendein Ziel. […] Nur die von außen kommenden Geräusche, die für die Schlaflosigkeit so kennzeichnend sein können, führen Anfänge in diese Situation ohne Anfang und Ende ein, in diese Unsterblichkeit, der man nicht entrinnen kann […]. (Levinas 1989, 23ff.).

Levinas spricht von einer allumfassende Wachsamkeit, einer Schlaflosigkeit zu der wir verdammt sind, die wir nicht in einem wohltuende Schlaf beruhigen können. Diese Wachsamkeit ist unser Bewusstsein, das sich nicht von den Dingen, den Eindrücken und Gedanken losreißen kann, sondern offenen Auges untrennbar an diesen hängt. Die Welt, die in der Phänomenologie noch das heimatliche Zuhause des Daseins bildete, verliert seine Geborgenheit und verwandelt sich in ein Gefängnis, dem wir nicht entkommen können. „Das il y a [Sein], das uns streift, ist das Entsetzen. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie es sich in die Nacht einschleicht, als eine unbestimmte Drohung des Raums, der selber losgelöst ist von seiner Funktion, Gegenstände aufzunehmen, die Seienden zugänglich zu machen.“ (Levinas 1997, 72) Diese Furcht vor dem Sein entwächst aus der Gewissheit, niemals aus dem Sein ausbrechen zu können, keinen Ort zu finden, an dem wir nicht von Gegenständen umzingelt wären, keinen Zeitpunkt zu erhaschen, in dem wir nicht mit unseren Gedanken konfrontiert sind. Mit dieser Angst verliert der Raum seine schützende, bergende, ordnende Funktion und dient nicht mehr als Ort der Ruhe, des Niederlassens und der Einkehr. Der Raum kehrt sich in sein Gegenteil, wird zur absoluten Bedrohung und konfrontiert uns mit dem Entsetzen, den Dingen ausweglos ausgeliefert zu sein. Von allen Seiten drängt er sich auf, versperrt jede Fluchtmöglichkeit und offenbart dadurch, dass nicht wir es sind, die ihn kontrollieren, sondern er es ist, der uns keinen Moment aus den Augen lässt und sich wie ein drohendes Gefängnis um uns legt.

Lévinas offeriert zwar in seiner Philosophie einen Ausweg aus diesem Angekettet-Sein – die sich vom Selbst weg hin auf den Anderen bewegt –, der wir hier aber nicht weiter folgen werden. Stattdessen, werden wir uns mit Quentin Meillassoux einem Gegenwartsphilosophen widmen, der eine weitere Fundamentalekritik der Transzendentalphilosophie und Phänomenologie in Anschlag bringt. Zusammen mit drei Kollegen hat er 2007 die Strömung des Spekulativen Realismus ins Leben gerufen, deren gemeinsamer Nenner in einer Abkehr von anthropozentrischen Konzepten hin zu einer absoluten, den Menschen und seine Wahrnehmung übersteigenden Realität besteht. Das Beispiel, das Meillassoux ins Treffen führt, um eine Realität anzuzeigen, die nicht auf den Menschen oder eine Verstandestätigkeit rückgebunden ist, fasst er unter dem Archefossil zusammen.

Seit dem Aufkommen neuerer archäologischer, geologischer oder kosmologischer Datierungsmethoden sind die experimentellen Wissenschaften in der Lage, absolute Zeitangaben über Fossilien oder kosmische Ereignisse zu liefern. Was wir mit diesen Methoden erhalten, lässt sich auf einem kurzen Streifen abbilden: Kreuze, Markierungen, die Ereignisse anzeigen, die weit vor der Entstehung des menschlichen Organismus und sogar des Lebens selbst hinausweisen, chronologische Angaben, wie etwa der Ursprung des Universums vor 13,8 Milliarden Jahren, die Rekombination ungefähr 378.000 Jahre danach, die Entstehung der Erde vor 4,45 Milliarden Jahren oder der Ursprung des irdischen Lebens vor 3,5 Milliarden Jahren, der den Beginn der Sinnlichkeit darstellt. Alle diese Ereignisse, die „jeder erfassten Form des Lebens auf der Erde“ (NE, S. 24) vorausgehen, werden durch sogenannte Archefossilien angezeigt. Sie sind im Gegensatz zu Fossilien nicht nur materielle Überreste bzw. Spuren vergangenen Lebens, sondern liefern stoffliche Hinweise über anorganische Ereignisse, die jenen vorausgehen.

Das Problem das Meillassoux mit dem Archefossil eröffnet, erhält dadurch seine Schlagkraft, dass es die lebende oder denkende Relation zur Welt, das, was wir mit dem Sinnlichen sowie dem Bewusstsein fassen, das Subjekt also nicht als zeitloses oder transzendental außerzeitliches Prinzip fasst, unter dem Wissenschaft stets möglich ist, sondern als Tatsache in die Wirklichkeit oder Zeitlichkeit selbst einschreibt, es in eine Abfolge von Ereignissen einreiht, deren Ursprung nicht selbst wieder eine wie auch immer geartete Beziehung zur Welt ist. Denken und Leben werden durch die Konfrontation mit der Wissenschaft zeitlich relativiert. Sie sind nicht mehr das oberste, allumfassende Prinzip (der Einheit oder der Reflexion), unter dem sich Zeit, Raum und Wirklichkeit notwendig konstituieren, sondern selbst zeitlich geworden. Sie sind selbst einem genetischen Prozess unterworfen, der sich nicht vollständig sinnlich oder reflexiv einholen lässt, sondern auf eine Wirklichkeit verweist, die jenseits transzendentaler Grundsätze verläuft oder zumindest diese in ihrer vermeintlichen Abgeschlossenheit irritiert.

Aber nicht nur über die Chronologie, sondern auch über den Raum lässt sich ein solches Argument führen. Ebenso wie sich blinde Flecken in der Zeit offenbaren, ist auch der Raum selbst nie vollends durch das Bewusstsein eingenommen.

Teil II   

 Der Unbewohnbarkeit des Raumes 

(Architektur und Spekulativer Realismus; Object-Oriented-Ontologie) 

Der spekulative Perspektivwechsel

Meillassoux führt dieses Problem auf eine philosophische Tendenz zurück, die er Korrelationismus nennt. Immer, so Meillassoux, versuchen diese Philosophien nur zu klären, welchen Zugang der Mensch zu den Dingen hat und versteht die Welt dann nur durch diesen Zugang. Wenn der Zugang der Welt leiblich ist, dann ist die Welt einverleibt; wenn der Zugang zur Welt sprachlich ist, dann wird das Sein selbst als Sprache verstanden; Wenn wir die Welt ausschließlich durch unser Bewusstsein begreifen, dann ist die Welt im Bewusstsein. All diese Korrelationen von Denken und Sein schließen aus irgendetwas über den Zugang des Menschen zur Welt sagen oder denken zu können. Levinas’ Verweis auf das anonyme Sein und Meillassoux’ Verweis auf den blinden Fleck der korrelationistischen Philosophien weisen uns auf die anthropozentrische Verengung der Welt hin, als sei die Welt, der Raum und die Zeit, die wir bewohnen und sind, nur auf uns bezogen und nur durch uns verständlich. Als sei die Welt so geschaffen, dass wir sie bewohnen können und als würde sie darin aufgehen. Mit dem Archefossil Meillassoux sind wir nicht nur an eine Zeit vor und nach dem Aufkommen von Bewusstsein erinnert, sondern es weißt auf eine grundlegende Lücke hin, in der das Sein seine Eigenständigkeit behauptet und dieses Sein ohne unser Denken gibt es nach Meillassoux zu denken. Was als Spekulativer Realismus bekannt wurde, versucht eben die genannte Korrelation auszuschalten und damit entweder die Identität oder die radikale Trennung von Sein und Denken zu denken.

Der Raum besitzt damit immer eine andere Seite; eine, die nicht auf den Menschen bezogen verstanden werden kann, die ihm unzugänglich ist oder ihn sogar hervorbringt. Im Folgenden wollen wir die generellen Grundzüge dieses Ansatzes erklären und einige Konsequenzen skizzieren, indem wir ihn auf die Architektur beziehen. Anschließend werden wir versuchen über die Diskussion zwischen Parametrismus

Was wir im Folgenden als eine vom spekulativen Realismus inspirierte Architektur beschreiben wollen, ist weniger ein vollständiges metaphysisches System mit neuen Begrenzungen, sondern eher eine Heuristik für Neues, eine andere Perspektive jenseits der korrelationistischen Einengung ohne eine 1:1 Übersetzung der Theorie zu behaupten.  Als Spekulation werden wir dabei ein Wissen bezeichnen, dass nicht in der Erfahrung von Menschen gründet oder ausschließlich von ihnen erzeugt wurde und damit nicht nur auf sie bezogen bleibt.

Um diese Metaphysik in Bezug auf die Architektur zu verstehen, kann uns ein Modell der Dimensionen des Raumes von Thacker helfen. Er unterscheidet zwischen der Welt, dem subjektiven, erlebten und sinnvoll eingerichten Raum (Welt-für-uns), im dem wir unser Leben zumeist leben und der Erde, dem objektiven physischen Raum auf dem die Welt aufbaut ohne selbst zu erscheinen (Welt-ansich). Diesem fügt er jedoch noch eine dritte Dimension hinzu, den Planeten, der Raum, der weder subjektiv strukturiert noch zum Objekt gemacht werden kann. Er erscheint als Bruch innerhalb der Welt, deren Sinnzusammenhänge er stört und Lücke der Erde als unförmiges, sich Entziehendes und schlicht “Unbegreifliches”. Der Planet drückt eine Alterität aus, die nicht einfach als Gegenteil oder das Fremde begriffen werden kann, sondern sich auch diesen Urteilen gänzlich entzieht; kurz, dem unser Urteil egal ist.

In den Werken von Zach Blas scheint dieser Raum im innersten des bekannten aus, dem Gesicht. Es zeigt sich dabei in zwei scheinbar konträren Tendenzen. Die Face-Cages demonstrieren die biometrische Reduktion des Gesichts, so wie Maschinen sie heute vielerorts vornehmen und damit algorithmisch jeder menschlichen Sinndimension entreißen.

Zach Blas – “Face Cages” (2014-16)
Zach Blas – “Facial Weaponization Suite” (2014)

Die Facial Weaponization Suite dagegen widersetzt sich jeder Strukturierung, deformiert das Gesicht nicht nur, sondern löst alle Eigenschaften von ihm ab. Das Vertraute erscheint als Unförmig, unzugänglich, wie ein Grund aus dem zu jederzeit etwas aufsteigen könnte. Die räumlichen Strategien der geometrisch-algorithmischen Reduktion, sowie die Subtraktion aller Eigenschaften stellen dabei Wege dar, nicht nur eine Lücke, sondern einen Überschuss hinter dem aufzuzeigen, was dem Menschen zugänglich.

Limasse Five – “Naissance” (Video Game 2014)
Tsotumo Nihei – “Blame” (1997)

Diese Elemente fließen in der Magastructure Architektur von Tsotumo Niheis “Blame” zusammen. Die scheinbar unkontrollierte, künstliche und fremdartige Architektur ist das Werk einer Konstruktions-AI über die die Menschen schon lange die Kontrolle verloren haben, und die sich selbst differentiell in ihren Konstrukten fortsetzt; scheinbar unendlich. Deswegen besteht ein nicht unerheblicher Teil der Geschichte in einsamen Szenen, in den der Protagonist auf eine unbewohnbare Architektur blickt.

Tsotumo Nihei – “Blame” (1997)

Anstatt diese Architekturen anthropozentrisch als Gefahren wahrzunehmen, sollten wir sie als spekulative Chancen begreifen. So wird die Stadt beispielweise nicht länger nur als funktionale Einrichtung von Menschen verstanden, die sich einen gemeinsamen Raum teilen. Löst man die Systeme und Funktionen der Maschinen, Anlagen, Gebäude, Straßen vom Bezug auf den Menschen ab, dann erschließen sich eigenständige Schichten der Stadt. Verstanden als blättrig oder gefaltet, um einen Begriff von Deleuze zu verwenden, erscheint die Stadt als reguliert durch verschiedene Zugangswege von denen nur einige den Menschen einlassen, andere ihn einbinden, andere ihn ausschließen. Die algorithmische Beschaffenheit vieler urbaner Abläufe vollzieht sich explizit ohne den Menschen und registriert seine Mitarbeit bestenfalls als Verlangsamung. Das Netzwerk der Stadt macht den Menschen akzidentiell.

Bevor wir uns zwei architektonischen Strömungen als Beispiel zuwenden, wollen wir einige angeschnittene Eckpunkte festhalten. Die subjektlose Architektur der Spekulation weisen nicht auf den Menschen als autonomen Schöpfer und Endzweck zurück, sondern schließen ihn akzidentiell ein. Für das Entwerfen heißt das einerseits, die andere Seite des Raumes zu bedenken, d.h. die Unzugänglichkeit des Raum und die abgewandte Seite der Dinge, und gleichzeitig auf nicht-menschliche Designprozesse zurückzugreifen, um diese auszuloten. Gegen die dekonstruktivistische Lesart von Architektur – ‘Alles Entwerfen ist Zitieren. Alle Architektur ist differentielle Wiederholung der Geschichte’ – , die einen gewissen historischen Ekklektizismus implizieren, verweigert sich die Spekulation entschieden den historischen Einflüssen, weder modern noch postmodern.

Alles/Nichts ist verbunden

Als die Architektur der Postfordistischen Netzwerkgesellschaft, tritt der Parametrismus Schumachers mit der anthropologischen Grundthese an, den Menschen nur durch seine geschaffenen Umwelten verstehen zu können, die gleichzeitig ihn hervorgebracht haben. Menschliche Akteure, sowie Gebäude und Infrastruktur können damit nur als ein Netzwerk von Relationen (oder Kommunikationsprozessen) verstanden werden, die wiederum heterogene auto-poetische Systeme ausbilden. Aufbauend auf der Philosophie von Deleuze und Guattari versteht Schumacher ein Gebäude damit als Element einer Mannigfaltigkeit, das durch die Affektionen (oder Wirkungen) bestimmt ist, dass es auslöst und die auf es einwirken. Er versteht ein Gebäude damit explizit nicht als eigenständiges Objekt, sondern als “Knoten” in einem System von Flüssen (von Kräften, Informationen, Menschen etc.), in das es architektonisch eingebunden werden muss, um jene Flüsse zu verstärken oder zu verlangsamen. Alle Elemente, sind was sie tun, d.h. wie sie auf andere wirken. Alles ist verbunden.

Patrik Schumacher – Bibliothek der Wirtschaftsuniversität Wien

Philosophisch entscheidend ist dabei, dass der Mensch nicht als primärer Bezugspunkt, sondern als Akteur auf einer Stufe mit allen anderen Akteuren im kommunikativen System gesehen werden; eine sogenannte Flat-Ontology. Zu keinem Zeitpunkt, hat der Mensch kompletten Überblick oder Zugriff auf ein Gebäude, dass durch die unüberschaubare Mannigfaltigkeit der Stadt bestimmt ist. Die Nutzung von Algorithmen im Designprozess unterstützen diese Loslösung vom Subjekt als souveränen Schöpfer und Autor.

 Die neo-liberale Grundhaltung, die Schumacher wiederholt als politischen Grundpfeiler des Parametrismus betont hat, ist philosophisch keine Überraschung, bauen doch einerseits seine Architektur und die Kaynsianische Ökonomie auf der gleichen Metaphysik unpersönlichen Flüsse auf, genauso wie er sich eine konzeptuelle Grenze mit der Algorithmic Governance teilt.

Die Spielart des Spekulativen Realismus Harmans, die Object-Oriented-Ontology, die in den letzten Jahren zunehmend an Einfluss in der Architektur gewonnen hat, versteht sich als eine explizite Kritik an Schumachers Parametrismus. Ein Streit, den beide in zahlreichen Artikeln öffentlich ausgetragen haben. Harman wirft Schumacher ein generelles Missverständnis der Eigenständigkeit und Unerschöpflichkeit von Objekten vor. Harman betrachtet den Parametrismus als neuste Wiederholung eines wiederkehrenden Themas der Philosophie und Kulturgeschichte, dem under- und over-mining von Objekten. Mit undermining meint er die Tendenz, individuierte Objekte auf die Wirkung von Kräften zu reduzieren, z.B. Grundkräfte in der Physik und damit als Objekte aufzulösen. Als overmining bezeichnet er dabei die Praxis Schumachers, eigenständige Objekte in größere Gefüge aufzulösen und damit ihre Individualität abzusprechen. Beide Tendenzen verstehen Objekte nicht als Individuen mit eigener Tiefe, sondern nur als Effekte. Da aber sowohl under, wie overmining sich in philosophische Aporien verlaufen, versucht Harman den Status von Objekten neu zu denken. Er sieht das primäre Problem in der ungerechtfertigten Bevorzugung der Relation des Menschen zu den Dingen vor der Relation der Dinge untereinander. Wie zu Beginn gezeigt, wird nur der menschliche Zugang zur Welt durch eine Korrelation (Bewusstsein, Leib, Sprache) gedacht. Da die Dinge aber keine dieser Zugänge besitzen, glauben wir, sie könnten keine Relationen eingehen. Harman versucht diese Vorannahme zu korrigieren, indem er alle Relationen auf eine Stufe stellt. Betrachten wir es aus dieser Perspektive noch einmal den Würfel. Indem ich den Würfel betrachte gehe ich eine Beziehung zu ihm ein, genauso wie er zu mir. Aber, ebenso, wie der Würfel für mich eine Undurchdringlichkeit aufweist, so ich auch für den Würfel. In einer Relation erschöpfen sich die Relata also nie vollständig, sie halten etwas zurück, dass nicht in die Relation eingeht. Diese Unausschöpflichkeit besitzt nach Harman auch jedes Objekt. Er ist die dem Menschen, aber auch allen anderen Objekten abgewandte Seite des Objekts. Das aus dem muslimischen Okkasionalismus stammende Beispiel des Feuers, das Baumwolle verbrennt, dient Harman dabei Anschauungsobjekt. Das Feuer interagiert mit der Baumwolle und einige ihrer Eigenschaften sind ihm zugänglich, einige, wie die Farbe oder der Geruch nicht. Obwohl sich beide in Beziehung stehen, halten sie etwas zurück voreinander. Entgegen des Parametrismus von Schumacher, der Objekte in Gefügen restlos auflösen will, betont Harman also die irreduzible Objekthaftigkeit von architektonischen Gebilden. Nichts ist verbunden.

Spekulation und Architektur

Beispielsweise den Architektur-Instituten von Yale und London (siehe unten), oder den Designs von Gilles Retskin sind daraus eigene architektonische Ansätze entstanden.

Gilles Retskin – Spekultaive Architektur aus “Discrete Aggregation”

Das Forschungsprojekt “Spekulative Urbanism” der TU Berlin. Aufbauend auf Harmans Object-Oriented-Ontology, entwirft das Projekt ein Post-Digitale Zukunft, die sich gegen die alles integrierenden Tendenzen der Netzwerk-Gesellschaft richtet. Gebäude werden dabei als mobile Einheiten konstruiert, die sich durch den Stadtraum bewegen und an Docking-Stationen anlegen können. Anstatt in das Netzwerk eingebunden zu sein, gleitet das Objekt über seinen Zusammenhängen.

TU Berlin – “Speculative Urbanism”

Diebeiden Ansätze des Parametrismus und der Object-Oriented-Ontology, so grundlegend verschieden sie auf den ersten Blick erscheinen, wie eine Wiederholung des Gegensatzes von Platonischer und Aristotelischer Physik, sind vielleicht vereinbarer als sie erst anmuten. Die subjektlose, nicht-korrelationistische Architektur, die beiden gemein ist löst sich von der strengen geometrischen Form als ideale Konstruktion der Anschauung und verweist auf eine radikale Unwiederholbarkeit und Repräsentierbarkeit (z.B. durch die diffentielle Wiederholung der Form bzw. die grundlegende Unerschöpflichkeit des Objekts). Während für Harman die Unerschöpflichkeit des Objekts und ihre Relationen zueinander ihre Reduktion auf dem Menschen verhindern, und für Schumacher durch die algorithmische Konstruktion und Integration in ein nicht-repräsentierbares Gefüge (z.B. Stadt) archetektonische Gebilde unserem vollständigen Zugriff widerstehen, verweisen trotzdem beide auf eine Konstruktion die sich an einer den Dingen oder Relationen eigenen Endo-Konsistenz orientieren und ihre mereologischen Eigenschaften bestimmen.

Diese bauten führen als etwas vor, dass nicht vollständig vorgestellt oder repräsentiert werden können, weil sich diese Objekte zurückziehen, immer schon in größere Zusammenhänge eingebunden, die sie konstituieren, sind. Und doch, kann man sie denken und entwerfen. In Kants Analyse des mathematischen Erhabenen erläutert er, das Gefühl der gleichzeitigen Erschütterung und Erhebung, die ihn ergreift, wenn der Mensch einsieht, wie er in der Lage ist durch den Gebrauch des Verstandes das ihm anschaulich gegebene zu übersteigen. Eine unendliche Zahlenreihe kann bespielweise gedacht werden, aber nicht anschaulich vorgestellt – der Verstand vermag etwas wortwörtlich ‘unvorstellbares’. Diese Möglichkeit der Spekulation jedoch, so Kant, teilt sich eine Grenze mit dem Wahnsinn, die wir allzu oft unwissentlich überschreiten. Einige radikale Designs, wie der Wiener Gruppe “IHeartBlob” (s.u.), so wurde mir schon gesagt, gelten für viele Architekten vielleicht nicht einmal mehr als Architektur im engeren Sinne.

Still aus IHeartBlobs Instagram

Daraus ergibt sich jedoch die vielleicht eigentlich interessanteste Frage an der Schnittstelle zwischen Spekulation und Architektur: Wenn wir nun die Architektur und im Besonderen das Entwerfen als eine Art verstehen, nicht nur einen Raum aufzuteilen und zu sortieren, sondern ihn auch zu erforschen und aufzuschließen, uns dann aber nicht auf die andere Seite des Raumes einlassen; Wenn wir also nicht die subjekt-dezentrierende Eigenständigkeit von Objekten oder die genetische Kraft der Formen aus sich selbst heraus für die Architektur anerkennen, wie sollen wir dann jemals herausfinden, was der Raum alles kann.

Die Einführung der Spekulation in die Architektur zeigt daher einerseits ein anderes Verständnis des Raumes und der Räume der Architektur auf, gleichzeitig ermöglicht sie aber auch – zumindest potentiell – die Findung oder Erfindung neuer, noch nicht bekannter Formen und Funktionen, gerade indem man die Objekte, Gebäude, Städte aus ihrem formgebenden und funktionsbestimmenden Zusammenhang mit dem Menschen löst. Gleichzeitig werden diese Schöpfung vielleicht neue Umwelten und soziale Relationen zulassen, die andere Formen von Subjektivierung aufschließen oder gar einen anderen Menschen hervorbringen.

Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Fischer 1987.

Levinas, Emanuel (1997), „Vom Sein zum Seienden“, München: Alber.

Levinas, Emanuel (1989), „Die Zeit und der Andere“, Hamburg: Meiner.

[1] Auch wenn wir es sind, die diese Erfahrung machen, wird gerade diese Erfahrung entgrenzt und zum Problem, indem sich jeglicher Anker in der Wahrnehmung verliert.