Schlaflosigkeiten

Einleitung

In einer wenig bekannten Schrift Immanuel Kants „Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“ berichtet Immanuel Kant von den Schrecken, die ihm seine eingesunkene und enge Brust bei Nacht bescherte; von den selbstquälerischen Gedanken seines kommenden Endes, mit denen ihn die „dichtende Einbildungskraft“ wie mit einem Fluch belegt hatte und ihm den Schlaf raubte. Sehr klar sieht er in diesem Text das Paradox, das sich hinter der Forderung verbirgt, die schlaflosen Gedanken in ihre Schranken zu weisen, da jeder Versuch dies zu tun, die Schlaflosigkeit verstärkt und damit die zu Grunde liegende Angst nährt. Aber, in einer Art Auto-Kritik des Gemüts, fordert Kant uns jedoch trotzdem auf, durch den Vorsatz des Willens das Gemüt zu zügeln, die Gründe unserer Ängste auf ihre objektive Realität hin zu prüfen und vor allem, sich korrekt zu betten, um die Schlaflosigkeit ihrer Macht zu berauben. Ich komme nicht umhin eine genealogische Linie zwischen dieser Kantischen voluntaristischen Tradition der Selbstheilung und den zahllosen verhaltenstherapeutischen Seminaren zur Schlafhygiene zu sehen, die ich in den letzten Monaten besucht habe.

Selbst wenn man Kants Umgang mit der Schlaflosigkeit als dogmatisch abtut und vielleicht seinen Stoizismus belächelt, versteckt sich hinter dieser Geste doch die ernsthafte Frage nach unserem Umgang mit und Verständnis vom Unvermögen einzuschlafen. Die These, die ich heute vertreten will, bezieht sich darauf: Im Begehren, die Schlaflosigkeit (als absoluten Verlust) aus sich zu verbannen, hat die industrielle Moderne nicht nur eine ununterbrochene Wachheit erzeugt, sondern auch eine persistente Schlaflosigkeit. Eben in dieser wird die Moderne von ihrer Kehrseite, dem Unpersönlichen, dem Unvermögen und der Widerständigkeit des Körpers heimgesucht, die politisch bedeutend sein könnte. Um dies darzustellen, will ich zunächst auf die Kräftekräftekonstellation der – wie ich es nenne – akzidentiellen Biopolitik der Schlaflosigkeit eingehen, dann genauer auf die Heimsuchung durch eine Andeutung einer Phänomenologie der Schlaflosigkeit, um dann nach einer Gemeinschaft der Schlaflosen zu fragen. Dieses Vorhaben jedoch philosophisch anzugehen, stößt auf einige methodische Probleme.

Dass Kant das Grundparadox der Schlaflosigkeit – nämlich, dass man sie durch die Aktivität, die sie beenden soll, nur vergrößert – nur durch einen Gewaltschlag lösen kann, zeigt vor allem die Hilflosigkeit des Denkens mit diesem Unvermögen umzugehen – ein Zug, der für große Teile der Philosophie gilt, wie ich behaupten möchte. Dafür will ich es nicht nur bei der Bemerkung belassen, dass es nahezu überhaupt keine und vor allem keine systematischen philosophischen Werke zur Schlaflosigkeit gibt – man bleibt auf einzelne kleine verstreute Bemerkungen verwiesen, meistens auch noch bei jenen Denker_innen, die der Philosophie am meisten misstrauen. Erstaunlich bei einem so drängenden Phänomen menschlicher Existenz, zumindest für diejenigen, die es erleiden. Vielmehr, denke ich, hat das Unvermögen Einzuschlafen aus systematischen Gründen keinen Platz. Die Philosophie ist ausgiebig beschäftigt mit der Dialektik zwischen Wachen und Schlafen – auch wenn sich die Konstellationen historisch ständig veränderten. Untersucht Aristoteles noch die verschiedenen Formen von Schlaf und Träumen, ist Hume beispielsweise in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand bereits bereit, den Schlaf in einen Topf der Erkenntnishindernisse zusammen mit dem Wahnsinn und Fieberdelirium zu werfen. Die Schlaflosigkeit aber, blockiert nicht nur den Übergang von vom Wachen zum Schlafen (und vive versa) und damit auch ihre Identitäten, sondern auch den Grund für ihre Unterscheidung. Die Philosophie, wenn man sagt, dass sie am Guten und Wahren interessiert sei, setzt eine Wachheit und Tätigkeit voraus und verspricht im Gegenzug einen Zuwachs eben dieser. In der Schlaflosigkeit bricht das Denken und Wahrnehmen aber gerade unter seiner eigenen Last zusammen, wird die Fähigkeit „Erfahrungen“ zu machen blockiert und das Vermögen das Gegebene mit ästhetischen oder ethischen Unterscheidungen zu verbinden unmöglich. Man bewegt sich, wie Levinas sagt, jenseits des Allgemeinen und der Wörter. Gleichzeitig lässt sich die Schlaflosigkeit nicht begrifflich verstehen, noch scheint sie selbst Begriffe zu erzeugen – eine doppelte Sperrung. Selbst bei jenen, die das Gute und Wahre als dogmatische Ziele der Philosophie entlarvt zu haben scheinen, besteht diese Abwertung fort. Niemanden hasst Friedrich Nietzsche so eindringlich, wie die Neurastheniker und die Schlaflosen und selbst Gilles Deleuze wertet die Müdigkeit und Schlaflosigkeit noch als reine unproduktive Dysfunktion der Vermögen ab, um sich für eine höhere, absolute Erschöpfung als Fluchtlinie auszusprechen. Die Philosophie scheint die Schlaflosigkeit nicht zu überstehen.

Mit Sicherheit weiß die Literatur mehr über sie zu sagen, weiß dieser nicht-begrifflichen Negativität des Unvermögens Ausdruck zu verleihen. Und mit Sicherheit gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der grassierenden Schlaflosigkeit und modernistischen Schreiben. Aber ich bin kein Literaturwissenschaftler. Am Ende des Tages weiß ich nichts davon. Ich werde also philosophisch tastend, ganz langsam umherirren müssen.

Die Schlaflosigkeit bietet uns zunächst die Möglichkeit eines Gelegenheitsdenken (wie Cioran es einmal nannte), als Form eines Denkens, das sich in einer bestimmten Situation zeigt, eingedenk der Gestimmtheit, der Intensitäten, Umstände – Wer? Wann? Wieviele? -, die die Denkerin und den Ort des Denkens selbst aufscheinen lassen. Zudem erlaubt die Insomnia, ein Denken in Konstellationen, insofern sich in der Schlaflosigkeit nicht nur biopolitische, materiell ökonomische und affektive Perspektiven treffen, sondern auch ineinander fallen. Beide Formen müssen zusammen verhandelt werden.

Ich werde von den Schlaflosen sprechen als seien sie eine Masse und von der Schlaflosigkeit. Aber es ist selbstverständlich, dass es so viele Formen der Schlaflosigkeit gibt, wie es Schlaflose gibt, ja vielleicht so viele wie es durchwachte Nächte gibt. Der Grübler, verstrickt in die uneingelösten Versprechen der Vergangenheit und Ängste der Zukunft, der Elternteil, der vom Kind wachgehalten wird, oder die Person im Verhör, der man als Form der Folter den Schlaf entzieht; alle verdienten ihre eigenen Analysen.

Ich dagegen, werde eine bestimmte Schlaflosigkeit besprechen, die Unfähigkeit einzuschlafen, obwohl man es will und keine äußeren Umstände einen daran hindern.

Zeitalter der Schlaflosen

Und, vielleicht gibt es etwas transhistorisches an der Schlaflosigkeit. Gilgamesh – am Anfang der Sage noch mit zu viel Kraft für die Arbeit und das Feiern ausgestattet, um zu schlafen -, wird im Laufe seiner Reise immer mehr von Ängsten geplagt, von „Visionen der Zerstörung“. Nachdem er und Enkidu Humbaba getötet haben, wird ihm bewusst, welche Schwelle er überschritten hat. Er schläft nicht mehr. Zugleich ist unübersehbar, dass die Erklärungen für Schlaflosigkeit und selbst die Erfahrung kulturell und historisch geformt sind. Das indische Gedicht Gitagovinda von Jayadeva aus dem 12.Jh. erklärt Schlaflosigkeit unter Menschen durch das Verlangen, welches Krishna für die Schafhirtin Radha empfindet, wenn sie getrennt sind. In der Dämonologie des Leon d’Alexis 1599 erscheint der Teufel als zugleich schlaflose und Schlaf raubende Kreatur, die man mit der Beichte abwehren müsse. Nicht schlafen können ist Zeichen und Form von Besessenheit.

Ich dagegen möchte dagegen (zugegebener Maßen sehr verkürzt) von der gegenwärtigen Schlaflosigkeit sprechen, die ihre Wurzeln in den neuen Regimen von Zeit und Raum, sowie den neuen Selbsttechniken seit Mitte des 19. Jh. hat.

Zweifellos sind der Schlaf und die Schlaflosigkeit Phänomene des Alltäglichen. Blanchot ließ sich 1959 noch zu der Idee hinreißen, dass eben dieser Alltag eine gewisse Widerständigkeit besäße, weil in ihm nichts geschehe, weil er sich entziehe. Bereits früh beginnen aber Debord, Adorno oder Baudrillard nachzuzeichnen, wie diese Alltäglichkeit okkupiert wird von Spektakel und Konsum, die uns den Schlaf rauben. Es vollzieht sich hier eine Verschiebung. Foucault nennt Disziplinargesellschaften, jene Formationen, die durch einschließende Institutionen Individuen in Zeit und Raum koordinieren und sie normalisiert, z.B. wie die Schule. In Japan gibt es ein Sprichwort, dass sich auf die Stunden bezieht, die man in den Wochen vor einer großen Prüfung schläft: „Yonto Goraku“ – „fünf durchgefallen, vier bestanden“. Obwohl diese Institutionen ein „Kerker-Kontinuum“ bilden, ließen sie doch Platz für einen sich entziehenden Alltag. Durch Techniken der Vernetzung, vor allem neue Informationstechnologien und neuer Formen der neoliberalen Flexibilisierung und Liberalisierung (beides Umschreibungen für neue Formen der Präkarisierung), ist dieser Alltag jedoch integriert worden in die Mühlen der Kulturindustrie. Deleuze nennt das einmal Kontrollgesellschaften.

Es wäre jedoch ein Fehler zu denken, diese Formen hätten sich nahtlos abgelöst, vielmehr bestehen sie in teils diskordanter Harmonie zusammen, wie man an den neuen visuellen Regimen sehen kann, die überall Sichtbarkeit herstellen wollen. Der Einsatz von unbemannten Drohnen durch in USA in Afghanistan hatte den Namen „Gorgon Stare“ – die Versteinerung, die dieser gorgonische Blick auslöste, war nicht zuletzt durch das Summen begründet, dass ihre ständige (potentiell tödliche) Präsenz ankündigte und bei der afghanischen Bevölkerung zu einer immensen Schlaflosigkeit führte. Eine Form der psychologischen Kriegsführung. Auf der anderen Seite, denke man an das scheinbar invertierte Panoptikon der sozialen Medien, bei denen der Begriff der „Betrachter_in“ aufgelöst wird, da man nicht nur beobachtet wird oder angehalten wird, sich sichtbar zu machen, sondern ständig dazu „verführt“ wird, zu schauen – was nicht nur eine ständige Wachheit und Wachsamkeit erzeugt, sondern einen auch nicht schlafen lässt. Wie viele Nächte hat man wegen dieser Welten schon wach gelegen.

Hatte das Fernsehen vor einigen Jahrzehnten noch ein Standbild nach Sendeende, so ist Streaming heute ständig verfügbar. Konsequenz der ständigen Kommunikationsflüsse ist die Angleichung der Komplexität des mentalen Erlebens an die reduktiven Routinen des Technologischen. Alex, in Kubricks A Clockwork Orange, empfindet das Blut erst als wirklich rot als er es auf dem Filmscreen sieht. Und hat dieser exzessive Konsum medialer Inhalte nicht etwas von Schlaflosigkeit? Man formt keine wirklichen Erinnerungen und man starrt, ohne dass sich wirklich Objekte formen. Statt diese ständige Verrückung aus dem Hier und Jetzt jedoch nur zu verurteilen, sollte man nicht die Gegenwart aus den Augen verlieren, aus der man aussteigt, denn sie ist unerträglich, und auch nicht die Tragik mit der man eigentlich tiefer in sie hineinflieht. Und vergessen wir nicht die geheime Soteriologie des Klickens auf das nächste Video auf Youtube, die Hoffnung dieses nächste Video würde einen endlich von der unendlichen Langeweile und Schwere erlösen, die alle vorigen hinterlassen haben.

Vor einer Weile habe ich bemerkt, dass einige Studierende in meinen Vorlesungen ihr Handy auf dem Tisch behalten, gelegentlich mit dem Finger drüber streichen oder daraufsehen – und ich vermute, dass sie nicht einmal davon abgelenkt werden. Es ist eher die Angst von der einbettenden Sphäre des Medialen und Instant-Kommnunikation getrennt zu sein, – eine Furcht ohne die imaginäre Stütze nicht in der desorientierenden Gegenwärtigkeit klarzukommen. Wie viele von uns, haben ständig Musik oder einen Podcast laufen oder müssen das Handy mit auf die Toilette nehmen? Und kehrt nicht diese Angst genau in der Schlaflosigkeit wieder? Wenn die Medien abgeschaltet werden müssen, und man mit der Stille, der Unvermitteltheit der Nacht alleine ist und sie nicht erträgt.

Gleichzeitig erzeugt die Moderne durch diese Regime der Sichtbarkeit neue Dunkelheiten. Kaffeehäuser sind seit dem 17. Jahrhundert nicht nur Produzenten aufgeklärter Diskurse und durch das Koffein einer neuen Welle von Schlaflosigkeit, sondern auch Ort der Verhandlungen und Verträge über den Handel mit versklavten Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen jenen Kaffee herstellten, den die Besucher dieser Wiegen des Liberalismus tranken. Es gibt eine ganze Geschichte der Analphabetisierung der Dunkelheit, die mit der Schlaflosigkeit zusammenhängt.

Im 19.Jh. gerät die Fabrik in eine ideologische Krise, da die Arbeiter_innen keine Identifikation mit den Produkten ihrer Arbeit finden können, sie von ihnen entfremdet sind. So etabliert sich eine neue Idee, die die Arbeiter_innen dazu anhält, sich statt mit den Produkten mit dem Prozess der Produktion selbst zu identifizieren für deren Modell die Maschine dient – und Maschinen schlafen nicht, sondern gehen nur irgendwann kaputt. Und vielleicht hat man den Satz im Ohr, der Magret Thatcher zugeschrieben wird: „Sleeping is for Whimps.“

Zunehmend findet man in neurowissenschaftlichen Zeitschriften Artikel über das kreative Potential von Schlaflosigkeit. Diese verzweifelt anmutende Geste, diese „vergebenen Stunden“, wie Adorno es einmal sagt, produktiv zu machen, deutet auf eine Reihe von Techniken hin, deren Ziel es ist, sich selbst zu erschaffen und vor allem – wie Reich es sagt – als authentisches und sich Selbst und sein Potential voll ausdrückendes Subjekt herzustellen. Wie Boltanki und Chiapello herausgearbeitet haben, ergibt sich aus diesen Kräfteverhältnissen eine neue Form der Arbeiter_in, die nicht nur ausführendes Element in einem von ihr getrennten Prozesses ist, sondern in dem das Subjekt zu einem engagierten, intensivierenden, integrierenden, kommunizierenden und telematischen wird. Notwendig fordert dieser Prozess, in der das Selbst sich einbringt, aber auch sich selbst findet, die Auflösung von Privatem und Öffentlichem, Freizeit und Konsum – kurz es dringt in den Schlaf ein und lässt ihn als Selbstverlust und Verschwendung erscheinen. Zugleich ökonomisiert es den Schlaf selbst – denken wir nur daran, wie oft wir in der Nacht auf die Uhr geschaut haben und uns dachten: „Mist, ich habe nur noch 5 Stunden zu schlafen, die muss ich jetzt wirklich nutzen.“ Wie Baumann einmal bemerkt, sind wir nicht mehr in der Lage uns überhaupt vorzustellen, diese ständige Arbeit der Selbsterschaffung nicht zu leisten – auch in der Nacht nicht. Ein neues Über-Ich begleitet diese Tendenz, dass – wie Lacan es meint – nur einen Imperativ kennt: „Lebe“ – je intensiver desto besser. Und wie oft liegen wir wach, und denken darüber nach, wie unser Leben intensiver gelebt werden könnte oder wie spannend das Leben der anderen ist.

Aber die Identifikation mit der Maschine, mit den entmaterialisierenden Prozessen des Digitalen, scheint heute immer wieder an seine Grenzen zu geraten. Niemand kann digital sein (wie in Tron), sondern man ist auf Formen phantasmatischer Identifikation angewiesen, die nie reichen. Erinnern wir uns an den Moment, an dem wir ganz eingelassen in den Fluss von Videos kurz aufschauen, und die Umgebung dagegen schwer und undurchdringlich wirkt, und wir selbst plötzlich Objekt dieser Dinge werden, ebenso träge. Aber dieser Moment verfliegt.

Aber man darf diese Schwere nicht vergessen, denn sie verweist auf die nicht-entmaterialisierbaren Bedingungen von Schlaflosigkeit. In Hobbes Leviathan ist eines der ersten Beispiele und Argumente für die Notwendigkeit des durch den Souverän geführten Staats der Schutz des Schlafes. Da absolut jeder im Schlaf getötet werden kann, ist die erste durch das Naturrecht geforderte Pflicht, den Körper der Schlafenden zu schützen. Dieser Vertrag zwischen Gemeinwesen und Einzelnem scheint heute aufgekündigt – durch die zunehmende Präkarisierung und das Wegfallen sozialer Leistungen ist der Schutz des Schlafes zunehmend in Gefahr.

Ein Raumfahrtkonsortium aus europäischen und russischen Akteuren plante Ende der Neunziger Jahre die Installation von Satelliten mit Parabolspiegeln in 1700 Kilometern Höhe, die Sonnenlicht gezielt auf das Gebiet Sibiriens reflektieren sollten, um es nutzbar zu machen, indem man die Polarnächte beleuchtet. Das Projekt, welches mit dem Slogan „Tageslicht, die ganze Nacht“ beworben wurde, scheiterte letztendlich – wohl eher aus wirtschaftlichen als aus wissenschaftlichen oder ethischen Gründen. Man muss diese Pläne in Verbindung mit der Beleuchtung der Fabriken in Großbritannien und Deutschland betrachten, wie sie vor allem im 18.Jh. und 19.Jh. durch den großflächigen Einsatz von rußfreier Gasbeleuchtung möglich wurde. Die ständige Verfügbarkeit von Licht machte es möglich, die Arbeitszeit (aber auch die Zeit allgemein) von ihren traditionellen Koordinaten zu lösen und eine neue abstrakte Zeit zu schaffen, die durch die Anforderungen der Produktion und die Geschwindigkeit der Kommunikations- und Steuerungssysteme strukturiert wird und prospektiv gegen 0 geht. Produktion und Handel ohne Zeitverschwendung – eine verlustfreie Oberfläche, der Traum der Hegelschen Dialektik. Marx hat auf diese besondere Bedeutung der Zeit in den Grundrissen hingewiesen: “Das Kapital treibt seiner Natur nach über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der physischen Bedingung des Austauschs – von Kommunikations- und Transportmitteln – wird also für es in ganz anderem Maße zur Notwendigkeit – die Vernichtung des Raums durch die Zeit.”

Zu den ausgedehnten räumlichen Bedingungen der Produktion gehört aber dennoch der träge menschliche Körper, der seit dem 19.Jh. daher verstärkt das Subjekt einer Erschöpfungswissenschaften wird, die nicht nur die Grenzen des Körpers ausloten, sondern abschaffen will. Schlaf gilt dem verlustfreien Prozess der kapitalistischen Produktion als uneinhegbarer Verlust, der vermieden werden oder zumindest begrenzt werden muss. Im südkoreanischen Seoul gibt es Nap Cafés, in denen der Schlaf, der in der Nacht nicht möglich ist, zu einem passenderen Zeitpunkt nachgeholt werden kann. Theresa Brennan hat für die unerbittliche Diskrepanz zwischen den flüssigen Zeitlichkeiten deregulierter Märkte und den Grenzen des menschlichen Körpers, die in ihnen leben müssen, den Begriff der “bioderegulation” geprägt, deren deutliches Zeichen eine pathologische Schlaflosigkeit ist. Sie ist gleichzeitig Zeichen und Ausdruck des einfachen Fakts, dass der fragile, endliche, menschliche Körper mit den immensen Kräften und temporalen Anforderungen der Moderne nicht restlos kompatibel ist. Oder, wie Beckett es Lucky in Warten auf Godot sagen lässt: so wird es „deutlich, das der Mensch im Gegensatz zu der entgegengesetzten Meinung daß der Mensch kurzum dass kurzum der Mensch also trotz der Fortschritte in der Ernährung und bei der Darmentleerung im Begriff ist abzumagern.“

In der abstrakten Zeit und den Regimen der Selbstoptimierung kehrt die Acedia [Trägheit] als Todsünde zurück, die, wie man bei Locke und Kant philosophisch begründet findet, zu allerhand Grausamkeit berechtigt – gegen andere und gegen sich selbst. Aber vielleicht sollte man die Trägheit, die Unnutzbarkeit der Schlaflosigkeit ernster nehmen als epistemologische Perspektive. Wie Cioran es einmal sagt: „Faulheit ist eine physiologische Skepsis, ist das Zweifeln des Fleisches.“ Auch wenn es keineswegs so ist, dass Körper erst rein entstehen und später mit Einschreibungen versehen werden, ist es hier die Dimension des Körpers als Fleisch, als materielle träge Masse und Ansammlung von sturen zyklischen Prozessen, die Widerstand leistet. Um das besser zu verstehen, müssen wir näher an das Unerträgliche, an eine Phänomenologie der Schlaflosigkeit selbst heran.

Träume der Schlaflosen

Eine solche Phänomenologie scheint jedoch von vorherein ausgeschlossen, markiert die Schlaflosigkeit doch genau den Punkt, an dem die wichtigsten Kriterien phänomenologischer Analyse, Rekonstruktion und Evidenz, an ihre Grenzen geraten, weil die Synthesen ihr Vermögen nicht mehr oder zumindest nicht mehr gemeinschaftlich realisieren. Durch die überwältigende Müdigkeit erscheint kein kohärentes Objekt in der Erfahrung, die Dinge erscheinen und doch erscheinen sie nicht, sind Eindrücke, die sich nicht durch Begriffe ordnen lassen, die sich der Struktur des Urteils entziehen – man sieht nichts mehr als „etwas“, sondern besser „es“ erscheint. Emmanuel Levinas hat diesen Punkt aufgenommen, um die Husserlsche Phänomenologie in zweifacher Weise zu kritisieren. Einerseits muss nicht jedem Bewusstseinsakt auch ein Bewusstseinsinhalt korrespondieren, dass heißt, es stimmt nicht, dass das Bewusstsein immer auf „etwas“ intensional gerichtet ist. Gleichzeitig gibt es auch kein Subjekt mehr, dass als die „Besitzerin“ des Erfahrenen ausgewiesen werden könnte. Von Kant bis Husserl gab es in der sogenannten transzendentalphilosophischen Tradition zwei Wege das Subjekt als Ich zu bestimmen: erstens, als empirisches Ich, die Weise wie wir uns selbst als Gegenstand unserer Wahrnehmung in Zeit und Raum erfahren. Jeder kennt aber die absolute Leere der Erfahrung oder das Rasen der Gedanken in der Schlaflosigkeit, die keine konsistente Wahrnehmung unser Selbst möglich machen – bestenfalls erscheinen wir fragmentiert, als das Reiben der Haut am Laken oder als sich vor Anspannung verkrampfende Hand. Oder aber als transzendentales Subjekt, das Ich, dass jede Erfahrung begleiten können muss – insofern es aber keine einheitliche gegenständliche Wahrnehmung in der Schlaflosigkeit gibt, kann das Ich nicht als der perspektivische Fixpunkt ausgewiesen werden, an dem sich die Erfahrung ausrichtet. Das Subjekt verliert sich in der Schlaflosigkeit ohne jedoch das Bewusstsein zu verlieren. Gleichzeitig verliert der Verstand den Griff auf die Dinge. Langsam beginnen die kausalen Verknüpfungen zwischen Dingen ihre Stringenz zu verlieren. Deswegen gehört zur Phänomenologie der Schlaflosigkeit auch das, was sonst den Hintergrund der Erfahrung bildet. Das Geräusch der Autos draußen, das Rauschen des Winds, das Surren von elektrischen Leitungen. Es ist wie Cages 4:33 – nur die ganze Nacht. Das zeitliche Nacheinander der identifizierbaren Dinge, ihre Interaktion löst sich auf – man fällt, wie Cioran es bezeichnet, wortwörtlich aus der Zeit.

Was aber zeigt sich dann in der Schlaflosigkeit? In Levinas vom Sein zum Seienden finden sich einige wenige Seiten zur Schlaflosigkeit, in denen er auf die Erfahrung des Seins als reine, anonyme Gegenwärtigkeit, die uns bedrängt und gefangen hält, verweist. Dieses unablässige „Es gibt“ lässt sich keinem Subjekt zuordnen, hat keinen anderen Ursprung als sich selbst und stellt sich uns weniger gegenüber als uns in es. Ein unablässiges Rauschen – Il y a, Il y a, Il y a – ein neutrales Sein an dem das Bewusstsein teilhat als anonymes Denken und nicht-blinzelndes Starren, aber nicht als Besitzerin. Ohne Objekt oder Orientierung ist eine „Erfahrung“ reiner Gegenwärtigkeit und nicht Nichts. In jedem Moment werden wir gewahr, dass wir in jedem Moment, in dem wir sind, sein müssen und nicht-nicht sein können. Ein existentieller Fakt, der sich trotz der tautologischen Struktur immer wieder verschiebt, je mehr er sich bestätigt. Die Schlaflosigkeit, ist das reine Desaster, wie Blanchot mein, das Des-Aster – das Wegfallen jeder Orientierung und der Erlöschung der Zeichen. Sie schafft eine Zone der Unempfindlichkeit und Ununterscheidbarkeit. Man kann die Diskussion führen, ob sich hier das Sein als die Nacht zeigt, in der alle Kühe grau sind (Hegel) oder ob sich das Sein als reine Differenz zeigt (Deleuze). Aber vielleicht ist diese Diskussion überflüssig, denn niemand kann in diesem Raum leben. Er gleicht Schellings unlebbarer Indifferenz des Grundes, aus der man erst fallen muss, um ein Mensch sein zu können. Mir scheint, als kehrte in diesem Gehalten-Sein zwischen Leben und Tod, der doppelten Unmöglichkeit des Sterbens (Schlaf) sowie des Lebens (Wachsein), die Kafkasche Wunde wieder, die bei jedem von uns unter neoliberalen Zuständen klafft.

Eben in dieser doppelten Unmöglichkeit zeichnet sich ein interessanter Bruch ab. Die Schlaflosigkeit bezeichnet den Punkt, an dem das Subjekt in der gleichen Weise den Besitz über sich selbst verliert, wie auch die vollständige Kontrolle der Umstände schwindet. In der Schlaflosigkeit kehrt etwas wieder, dass die Moderne versucht hatte aus sich auszuschließen – das entpersonalisierte Subjekt, ein nicht-verfügbares Sein, das Unvermögen des Subjekts, die Unproduktivität und der reine Verlust. Die Moderne wird heimgesucht, wie die Menschen in Tarkowskis Solaris, die – schlaflos durch die künstliche Beleuchtung auf ihrer Raumstation – ihre unerfüllte Vergangenheit halluzinieren oder gar manifestieren. Die Moderne erzeugt Gespenster.

Was aber mit dieser Heimsuchung anfangen?

Ich will die Schlaflosigkeit keinesfalls glorifizieren, oder gar in einer Heideggerschen Geste ein Übel einfach zur conditio humana erklären. Aber, ich könnte einige andere Wege gehen, die ich über zwei Pole der zeitgenössischen Theorie nur ganz kurz andeuten will, des Linksheideggerianismus, und einer neo- oder auch post-vitalistischen Deutung nach Deleuze.

Ausgehend von Agambens Idee, dass jedem Vermögen ein Unvermögen essentiell ist, dass also kein Vermögen sich je ganz realisiert und somit in seinem Vollzug ein nicht-tun-können zurückhält, könnte man die Schlaflosigkeit als Modell des Unvermögens par excellence charakterisieren – bei vollem Bewusstsein nichts mehr tun können. Weniger als ein Conatus, der zu seiner Realisierung drängt, wird hier die reine Potenz betont – das sich entziehende, weil in der Möglichkeit verbleibende. Ähnlich wie Becketts Watt, der alle Möglichkeiten seine Socken und Schuhe anzuziehen durchspielt, nur um keine zu realisieren. Fraglich bleibt dann nur, wie genau dieser Entzug politisch effektiv werden könnte – ob die Schlaflosigkeit also Modell oder Ausgangspunkt für eine Praxis sein könnte. Anderseits könnte man die Schlaflosigkeit als eine Form der Deterritorialisierung lesen, – das Wegfallen der Koordinaten als Freisetzung der differenziellen Kräfte betrachten, d.h. der Punkt, an dem die Kontrollapparate ihren Griff verlieren und sich Räume fürs Experimentieren auftun. Man mag sich fragen, ob man den Schritt wagen sollte, den Deleuze in seiner Interpretation des Ridderhood geht, in welchem er sogar das Sterben als Näherrücken an die Immanenzebene deutet. Ich weiß nicht, ob die Schlaflosigkeit solche „Milde“ von der Deleuze spricht zulässt.

Diese Wege könnte man beschreiten und es wäre wert sie einmal auszudenken. Aber ich weiß nicht, noch nicht, vielleicht nie, wie das aussehen würde. Aber es gäbe Arbeit.

Ich stattdessen möchte eine andere Frage ans Ende stellen, die uns zurück zur Heimsuchung führt.

Gemeinschaft der Schlaflosen

Zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung unterschied der Begründer der Traumdeutung, Artemidorus von Daldis, zwei Arten von Träumen: jene, in denen die Götter eine Nachricht sanden (oneiroi oder lateinisch visa) und denen, die der unerlösten Vergangenheit der Sterblichen erwuchsen (euhypnia oder lateinisch insomnia). Wie Macrobius hinzufügt, entstehen diese schlaflosen Träume aus der abgefallenen oder abgeleiteten Natur des Menschen als endliche, d.h. heißt, der Zeit verfallene.

Wie Derrida in Marx‘ Gespenster, wird die Gegenwart nicht nur heimgesucht, wird besetzt oder aus dem Lot gebracht, von dem was früher einmal Gegenwart war – also einfach Vergangenes. Sondern, sie wird heimgesucht von dem Teil der Vergangenheit, der nie Gegenwart war oder sein konnte, von all den Versprechen, die nicht eingelöst wurden, von den Appellen nach Gerechtigkeit, die ungehört blieben, von den Möglichkeiten von Ideen, von möglichen Welten, die sich unbestimmt und objektlos durch Risse, Schreie, Verschiebungen, Unheimlichkeiten Raum in der Gegenwart verschaffen.

Aber, gibt es einen Ort, an dem sich, wenn nicht die Gerechtigkeit selbst manifestiert, doch einen Ort von dem aus die Forderung, der Appell nach ihr ergehen kann, von dem aus er artikuliert werden kann? Kurz, gibt es eine Gemeinschaft der Schlaflosen?

In Simics „The Congress of the Insomniacs” heißt es:

“Mother of God, everyone is invited:

Stargazing Peruvian shepherds,

Old men on the sidewalk of New York,

You, too, doll with open eyes,

Listening to the rain next to a sleeping child.”

Die Einladung schließt Menschen, wie Puppen ein, sie ist zu weit und eine echte Zusammenkunft schiene eher wie ein Wunder als ein Akt. Wie sollte man eine solche Einladung auch annehmen? Besteht nicht immer der Widerspruch, wie Levinas auch bemerkt, dass wir uns in der Schlaflosigkeit für den Anderen öffnen, wie selbst aufgebrochen werden, und doch den Anderen radikal ausschließen – jeder ist auf seine Existenz zurückgeworfen. Man ist allein oder zu zwei allein, im Bett, auf der Couch, vorm Bildschirm. Und doch gibt es ein Begehren nach dieser Zusammenkunft, wie Cioran in seinen Notizen zu seinen durchwachten Nächte bezeugt: „Und ich fühlte mich eins mit all jenen, die nicht schlafen können […] Wie die Lasterhaften und die Fanatiker hatte auch ich mein Geheimnis; wie sie hätte ich gern einen Clan gegründet, dem ich alles verzeihen, hingeben, hinopfern konnte: den Clan der Schlaflosen.“ (205) Und wie teilt man ein solches Geheimnis? Vielleicht ist es wie mit den Menschen, die an einer noch unbekannten Krankheit leiden. Sie müssen eine gemeinsame Sprache finden, eine Weise ihr Leiden auszudrücken. Wo würden sie sich treffen, diese Geister?

Geister – wie im Mythos des Dibbuk – rauben uns Lebenskräfte, richten den Blick nicht unmittelbar auf die Zukunft, sondern zunächst auf die Vergangenheit und erst danach auf das Kommende. Die Geschichte, so Nietzsche, kann in bestimmten Formen das Leben schwächen, weswegen man selektieren muss, was der Zukunft angehören soll und was nicht. Kurz, man muss das Schlafen lernen. Vielleicht liegt die Lösung des Problems der Solidarität unter den Schlaflosen darin, nicht Nietzsches Rat zu folgen. Stattdessen gilt es, die offene Gewalt der Geschichte nicht zu entschärfen, sondern man sollte die Widersprüche und uneingelösten Versprechen der Moderne, welche sich in der Schlaflosigkeit kristallisieren als Wunde offenhalten, als einen Ruf nach noch ausstehender Gerechtigkeit.

Man muss diese gebrochenen Versprechen nachzeichnen, die in der Schlaflosigkeit wiederkehren und man muss sie kartografieren in ihren klassistischen, rassistischen, sexistischen und immer einzigartigen Ausformungen, ebenso, wie jede Schlaflosigkeit einzigartig ist. Dadurch würde sich die Differenzierung der Formen von Schlaflosigkeit der Komplexität der Kämpfe, die die Moderne ist, angleichen. Aber eben durch die Differenzierung, durch die Analyse der spezifischen und einzelnen Unvermögen, verweist jede Schlaflosigkeit doch auf das Privileg derer, die Schlafen können – die es sich leisten können, in den Schlaf vor der Gegenwart zu fliehen. Und vielleicht bildet sich gerade durch diese Vermehrung der Differenzen eine Gruppe, die keinen Begriff hat oder braucht, so wie Sartre es einst in der Kritik der dialektischen Vernunft beschrieben hat.

Vielleicht gibt es am Ende nur eine Gemeinschaft derer, die nichts gemeinsam haben, außer das, was sich nicht vergleichen lässt.